Herrschafts- und Regierungssysteme
Totalitarismus
Totalitarismus (12)
Weiterlesen...Totalitarismus-Modell von Friedrich/Brzeziński
Die Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzeziński sahen in totalitären Regimen etwas grundsätzlich Neues. Die verschiedenen totalitären Systeme seien jedoch grundsätzlich gleichartig und untereinander vergleichbar. Das Wesen der totalitären Regime sei ihre Organisation und ihre Methoden zur Erreichung der totalen Kontrolle, nicht ihr Streben nach totaler Kontrolle. Dennoch habe man sich totalitäre Systeme nicht als statische Gebilde vorzustellen, da sie einer Evolution unterlägen. In ihrem 1956 erschienenen Werk Totalitarian Dictatorship and Autocracy definierten Friedrich und Brzeziński sechs konstitutive Merkmale totalitärer Systeme:10 / 10 / 24Totalitarismus (13)
Weiterlesen...1. eine offizielle Ideologie, alle wichtigen Lebensbereiche umfassend, allgemeinverbindlich, auf Schaffung einer neuen Gesellschaft ausgerichtet, mit Wahrheitsanspruch und stark utopischen, z. T. religionsähnlichen Elementen.
2. eine einzige, die gesamte formelle Macht innehabende, hierarchisch und oligarchisch organisierte Massenpartei (neuen Typs), die in der Regel von einem Mann (dem Diktator) angeführt wird und die der staatlichen Bürokratie entweder übergeordnet oder mit ihr völlig verflochten ist. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung (bis 10 %) gehört der Partei aktiv an und eine aktive Minderheit innerhalb der Partei ist fanatisch der zugrunde liegenden Ideologie ergeben.
3. ein physisches und/oder psychisches Terrorsystem: Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung, aber auch der Partei selbst, durch eine (Geheim-)Polizei. Diese bekämpft nicht nur tatsächliche, sondern auch potenzielle Feinde.
4. das nahezu vollständige Monopol der Massenkommunikationsmittel beim Staat.
5. das nahezu vollständige Monopol der Anwendung der Kampfwaffen beim Staat.
6. eine zentrale, bürokratisch koordinierte Überwachung und Lenkung der Wirtschaft.
Friedrich und Brzeziński weisen weiterhin auf die zentrale Rolle des technischen Fortschritts hin, der die Merkmale 3–6 erst ermögliche.11 / 11 / 24Totalitarismus (14)
Weiterlesen...Totalitarismus-Modell von Peter Graf Kielmansegg
Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg kritisierte das Modell von Friedrich/Brzeziński, das seiner Meinung nach die Dynamik des sozialen Wandels innerhalb des Systems nicht erklären könne. Nach Kielmannsegg sind die entscheidenden Merkmale totalitärer Systeme:12 / 12 / 24Totalitarismus (15)
Weiterlesen...• monopolistische Konzentration der Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungsprozesse in einem Führungszentrum: Entscheidend sei hierbei nicht, dass die Führung wirklich alles selbst regelt, sondern dass sie prinzipiell die Möglichkeit hat, jede Entscheidung an sich zu ziehen, sowie die Entscheidungen, die außerhalb der Führung getroffen wurden, zu revidieren. Maßgeblich sei auch, dass die totalitäre Führung keiner Kontrollinstanz unterworfen ist.
• prinzipiell unbegrenzte Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems: Hiermit ist die Eingriffskompetenz des politischen Systems in prinzipiell alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gemeint.
• prinzipiell unbeschränkte Freiheit, Sanktionen zu verhängen: Entscheidend sei das zur Verfügung stehende Sanktionsinstrumentarium und die Verfügungsfreiheit über diese Instrumente. Terror sei nur eines der möglichen Instrumente. Als weitere werden beispielsweise die Bestimmung über Bildungs-, Berufs- und Kommunikationschancen sowie über die Chancen materieller Befriedigung genannt.13 / 13 / 24Totalitarismus (16)
Weiterlesen...Totalitarismus-Modell von Hannah Arendt
Laut Hannah Arendt ist die Rolle des Terrors das entscheidende Merkmal für ein totalitäres System. In ihrer 1951 zunächst in englischer Sprache erschienenen umfangreichen Untersuchung The Origins of Totalitarianism, die 1955 in Frankfurt am Main als Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft herausgebracht wurde, heißt es:
Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nicht darin, dass sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch darin, dass sie die Liebe zur Freiheit aus den menschlichen Herzen ausrottet; sondern einzig darin, dass sie die Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, dass der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.“14 / 14 / 24Totalitarismus (17)
Weiterlesen...Als weitere Kriterien der totalitären Herrschaft nennt sie: den Willen zur Weltherrschaft, fanatisierte Massenbewegungen auf der Grundlage des Führerprinzips, millionenfache Morde im Namen einer „neuen“ gesetzmäßigen Ordnung, das heißt die Umdeutung und Manipulation der Moral, sowie die Verknüpfung mit einer Ideologie und die totalitäre Propaganda.
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Weiterlesen...Totalitarismus-Modell von Karl Popper
Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902–1994) versuchte zu zeigen, dass sich die menschliche Zivilisation noch immer nicht von ihrem Geburtstrauma erholt hat – vom Trauma (seelische Verletzung) des Übergangs aus der Stammes- oder „geschlossenen“ Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur ‚offenen‘ Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen in Freiheit setze. Der Schock dieses Übergangs sei einer der Faktoren, die den Aufstieg jener reaktionären Bewegungen ermöglichten, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rückkehr zur Stammesgebundenheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Damit sei angedeutet, dass die Ideen, die wir heute totalitär nennen, einer Tradition angehören, die ebenso alt oder ebenso jung sei wie unsere Zivilisation selbst.16 / 16 / 24Totalitarismus (19)
Weiterlesen...Kritik am Konzept
Von sozialistischen Historikern wurde die Totalitarismustheorie kritisiert und gelegentlich als „Totalitarismusdoktrin“ bezeichnet. Sie sei ein ideologisches Konstrukt des Kalten Krieges, das die Länder des real existierenden Sozialismus diffamieren sollte. Gemäß dieser Auffassung sei der Nationalsozialismus nicht mit sozialistischen Systemen, welcher Art auch immer zu vergleichen. Das Totalitarismus-Konzept erfasse nicht die Ziele und Inhalte politischer Systeme sowie die Motivation politisch Handelnder, sondern lediglich die äußeren Formen wie Unterdrückung und Verfolgung politischer oder anderer Gruppen. Eine Reihe gemeinsamer Merkmale, wie Einheitspartei, umfassender Machtapparat, Kommunikationsmonopol, Führerkult und Terror reiche demnach nicht aus, um Regierungen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung als totalitär zu bezeichnen.17 / 17 / 24Totalitarismus (20)
Weiterlesen...Weitere Totalitarismus-Begriffe
Invertierter Totalitarismus
2003 prägte der Politikwissenschaftler Sheldon Wolin in einem Zeitungsartikel den Begriff Inverted Totalitarianism (deutsch: Umgekehrter Totalitarismus). In seiner Monografie Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism systematisierte er 2008 seine Darstellung und erhielt dafür im selben Jahr den Lannan Literary Award in der Kategorie „Ein besonders bemerkenswertes Buch“.18 / 18 / 24Totalitarismus (21)
Weiterlesen...Die These dieses Werkes ist, dass am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Streben nach dem Status einer „Superpower“ und mit dem „Management von Demokratie“ in den USA eine „postdemokratische Regierungstechnik“ entstanden sei. In dieser verbänden sich Elemente der liberalen Demokratie mit denen totalitärer politischer Systeme. Den zentralen Unterschied zum klassischen Totalitarismus sieht Wolin darin, dass der Nationalsozialismus ein „Mobilisierungsregime“ gewesen sei, das die Massen zur aktiven Beteiligung an der politischen Bewegung motivieren wollte. Dagegen setze der invertierte Totalitarismus auf eine weitreichende Entpolitisierung der Bevölkerung. Außerdem beruhe die postmoderne Form totaler Herrschaft auf „weicheren“, kaum wahrnehmbaren Unterdrückungsmechanismen. Auch eine starke Führungspersönlichkeit sei in dieser Regierungsform verzichtbar.
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