Herrschafts- und Regierungssysteme
Demokratie
Demokratie (11)
Weiterlesen...Zur Grundlage eines Messinstruments moderner empirischer Demokratieforschung wurde das von Robert Alan Dahl entwickelte Demokratiekonzept der Polyarchie. Diesen bereits im 17. Jahrhundert für eine Ordnung gebrauchten Begriff, der dem Volk die höchste Macht zugeschrieb, griff Dahl unter Abwandlung auf, indem er damit die auf dem allgemeinen Männer- und Frauenwahlrecht beruhenden Repräsentativdemokratien verband. Als Indikatoren bzw. Messgrößen einer Annäherung der bestehenden Polyarchien an das Ideal einer vollständigen Demokratie, das Dahl nirgendwo verwirklicht sah, bestimmte er eine Reihe wichtiger Kriterien: Wahl und Abwahl der Amtsinhaber; regelmäßig stattfindende freie und faire Wahlen; aktive und passive Stimmberechtigung für alle mündigen Staatsangehörigen; freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit; ungehinderte Selbstorganisation in politischen Parteien und Interessengruppen. Sartori sah in der auch aus seiner Sicht mit Mängeln behafteten existierenden Demokratie eine Wahl-Polyarchie – ein diffuses, offenes System von Einflussgruppen, die für Wahlen miteinander konkurrieren. Sein Ziel war eine „selektive Polyarchie“ bzw. eine „Polyarchie des Verdienstes“, bei der existierende wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nach John Rawls so zu gestalten seien, dass sie erwartbar zum allseitigen Vorteil dienen und allen freien Ämterzugang bieten.
10 / 10 / 22Demokratie (12)
Weiterlesen...Lockes liberale Staatstheorie
Während Thomas Hobbes im Leviathan einen Herrschaftsabsolutismus vorsah und sich mit Demokratie ausschließlich ablehnend auseinandersetzte, legte John Locke (1632–1704) mit Two Treatises of Government (Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1689) das Fundament für eine weltlich legitimierte, antiabsolutistische Staatsverfassung vor. Grundlage dafür ist bei Locke die grundsätzliche Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger in Verbindung mit vielen Grundsätzen des späteren Liberalismus wie dem Recht des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Vermögen. Weitere Merkmale sind religiöse Toleranz, die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive sowie das Widerstandsrecht gegen jede unrechtmäßige Regierung. Die Regierung unterliegt im Rahmen der Zustimmung des Staatsvolkes einem vorgegebenen Staatszweck mit begrenzten Machtmitteln der öffentlichen Gewalt („government by consent“). Die öffentlich bekanntzumachenden Gesetze gelten für Reiche und Arme gleichermaßen. Sie dürfen ausschließlich auf „Frieden, Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes“ abzielen.11 / 11 / 22Demokratie (13)
Weiterlesen...Montesquieus Gewaltenbalance
Ebenfalls nachhaltigen Einfluss auf das moderne Demokratiedenken nahm Charles Montesquieu (1689–1755) mit dem in seinem Werk De l’Esprit des Loix (Vom Geist der Gesetze, 1748) entwickelten System von Machtkontrolle und Gewaltenbalancierung. Montesquieu baute auf aristotelischen Lehren auf; er schätzte die nach seinem Verständnis freiheitliche, zeitgenössische konstitutionelle Monarchie in England und wandte sich gegen den in Frankreich etablierten Absolutismus. Ihm kam es auf die Einhegung der menschlichen Neigung zum Machtmissbrauch an. Die Staatsgewalten sollten einander wechselseitig in Schach halten („que le pouvoir arrête le pouvoir“). Laut Manfred G. Schmidt galt es für Montesquieu, vier Komponenten in der Gewaltenbalance zu halten: 1. die Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative; 2. die gesellschaftlichen Kräfte Krone, Adel und Besitzbürgertum; 3. die Staatsorgane (Volkskammer, Adelskammer, das durch Auslosung zusammengesetzte Volksgericht, ein Adelsgericht sowie den Erbmonarchen mit seinem Ministerrat); 4. grundlegende Befugnisse wie die Bestimmung von Repräsentanten und die Vollmacht, Gesetze zu erlassen. Den Machtausgleich zwischen den Gewalten sucht Montesquieu durch ein System ineinandergreifender Vetorechte („droits d’empêcher“) zu gewährleisten.12 / 12 / 22Demokratie (14)
Weiterlesen...Rousseaus Volkssouveränität
Ganz anders als für Locke beginnt für Jean-Jacques Rousseau speziell mit der Festsetzung des Eigentumsrechts die Verfallsgeschichte der Menschheit, weil den als Einzelnen in „ursprünglicher Unschuld“ lebenden Menschen dadurch der ihnen wohltuende Naturzustand abhanden komme. Für den daraus hervorgehenden Zustand der Vergesellschaftung sieht Rousseau gleichfalls einen allgemeinverbindlichen Vertrag vor (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes (Du contrat social ou Principes du droit politique)) – wiederum mit ganz anderen Akzenten als bei Locke. Indem jeder seine Rechte auf die Gemeinschaft aller überträgt, entsteht eine Republik, die das Gemeinwohl verkörpert und in der der „Allgemeine Wille“ (volonté générale) die politische Ausrichtung bestimmt. Im Ergebnis herrscht eine unmittelbare plebiszitäre Volkssouveränität, der sich niemand entziehen und verweigern darf. Wer sich der volonté générale nicht unterordnet, kann dazu gezwungen werden, was für Rousseau gleichbedeutend damit ist, dass man „ihn zwingt, frei zu sein“.13 / 13 / 22Demokratie (15)
Weiterlesen...Vereinigte Staaten – Menschenrechtserklärung, Federalist Papers und Verfassungsprimat
Die erste neuzeitliche Demokratie entstand Ende des 18. Jahrhunderts in den 13 Kolonien Nordamerikas. Ihre Vordenker stützten sich auf die Idee der Volkssouveränität, wie sie in den politischen Schriften der europäischen Aufklärung ausgebildet worden war, und gingen von den Rechten des Individuums aus. Dies kam in der Virginia Declaration of Rights zum Ausdruck, der weltweit ersten kodifizierten Erklärung der Menschenrechte. Einfluss auf die amerikanische Demokratie hatte auch die politische Praxis des Mutterlands Großbritannien mit rudimentärem Parlamentarismus und einer Gewaltenteilung. Ob sich die Gründerväter der Vereinigten Staaten auch von der Räteverfassung beeinflussen ließen, mit der sich etwa Mitte des 15. Jahrhunderts fünf Indianervölker zum Bund der Irokesen zusammengeschlossen hatten, ist nicht gesichert.14 / 14 / 22Demokratie (16)
Weiterlesen...Demokratieentwicklung in Europa
Die in ihrer Entstehung mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in Zusammenhang stehende Französische Revolution wies in der konstitutionell-monarchischen Phase viele Parallelen mit den Vorstellungen Montesquieus auf. Mit dem Sturz der Monarchie 1792 und der Errichtung der Ersten Französischen Republik durch den Nationalkonvent kam es zu einer begrifflichen Verschmelzung von Demokratie und Republik.15 / 15 / 22Demokratie (17)
Weiterlesen...Demokratische Bewegung in Deutschland
Bereits im Vormärz und beflügelt vom Hambacher Fest 1832 waren Forderungen zur Garantie von Bürger- und Freiheitsrechten, nach politischer Teilhabe, Parlamentarisierung und teils nach demokratisch-republikanischen Reformen laut geworden. Allerdings schwächten die unterschiedlichen Zielvorstellungen von liberalen Reformern einerseits und demokratisch-republikanisch orientierten Revolutionären andererseits die Einheit und Stärke der Paulskirchenversammlung. So scheiterte mit der Ablehnung von Kaiserkrone und Reichsverfassung durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. 1849 auch in Deutschland der Versuch, mit revolutionären Mitteln eine konstitutionelle Monarchie zu schaffen. Zwar wurde 1869 im Norddeutschen Bund und 1871 im Deutschen Kaiserreich das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt; die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung aber ließen die vor allem in Preußen weiter herrschenden konservativen Kreise nicht zu.16 / 16 / 22Demokratie (18)
Weiterlesen...Vorreiter in direkter Demokratie: die Schweiz
In der Schweiz wurde die demokratische Entwicklung im 19. Jahrhundert von der liberalen Regeneration angestoßen, an deren Ende die Schweizer Bundesverfassung 1848 und der Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat stand. Im Jahr 1874 wurde das fakultative Referendum auf Bundesebene eingeführt, mit dem das Volk direkt über Bundesgesetze, teils auch Bundesbeschlüsse und weitreichende völkerrechtliche Verträge abstimmt (Art. 141 Bundesverfassung). 1891 kam die Volksinitiative hinzu, mit der das Volk Verfassungsänderungen auch gegen den Willen von Parlament und Regierung beschließen kann (Art. 139 Bundesverfassung).17 / 17 / 22Demokratie (19)
Weiterlesen...Folgewirkungen des Mehrheitsprinzips
Mehrheitsentscheidungen können zur Benachteiligung von Individuen führen, die der Mehrheit nicht angehören. Alexis de Tocqueville sprach in diesem Zusammenhang von „Diktatur der Mehrheit“. Er verwies auf das der Demokratie innewohnende Risiko, sich in Richtung Mediokratie zu entwickeln, weil der Mehrheit „eine unsichtbare Form von Despotismus“ eigne, die den individuellen Willen aufweiche: „Die Volksmehrheit umschließt ‚Denken‘ in einer furchterregenden Umzäunung. Ein Schriftsteller ist frei, solange er sich innerhalb dieses Rahmens bewegt, aber wehe dem Mann, der ihn verlässt, nicht dass er Anklagen fürchten müsste, aber er muss gewärtig sein, im Alltag mit allen Formen von Unannehmlichkeiten verfolgt zu werden. Eine Karriere in der Politik ist ihm verschlossen, denn er hat jene einzige Macht beleidigt, die dafür die Schlüssel in Händen hält“. Von der Unvermeidbarkeit der Demokratie war Tocqueville gleichwohl überzeugt; folglich solle man die Menschen dazu fähig machen. Denn Demokratie sei der Welt „zum Schicksal geworden“ („un fait providentiel“).
Die Legitimität des Mehrheitsprinzips setzt, so Zippelius, voraus, dass die Menschenwürde, einschließlich der demokratischen Mitwirkungsrechte, und die Grundrechte der Minderheiten gewahrt bleiben.18 / 18 / 22Demokratie (20)
Weiterlesen...Einschätzungen zu modernen Demokratieformen
Der deutsch-amerikanische Polit-Philosoph und Soziologe Herbert Marcuse schrieb Mitte der 1970er Jahre ernüchtert: „Die regressive Entwicklung der bürgerlichen Demokratie, der von ihr selbst vollzogene Übergang in einen Polizei- und Kriegsstaat, muß im Rahmen der globalen US-Politik erörtert werden“., S. 146 „Die konturlosen Massen, die heute die Grundlage der US-amerikanischen Demokratie bilden, sind die Vorboten ihrer konservativ-reaktionären wo nicht gar neo-faschistischen Tendenzen. … In freien Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht hat das Volk … eine kriegführende Regierung gewählt, die seit langen Jahren einen Krieg führt, der eine einzige Reihe beispielloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt – eine Regierung von Repräsentanten der Großkonzerne …, eine von Korruption durchsetzte Regierung“.19 / 19 / 22